Sisu – die finnische Lebensart
Gastbeitrag von Bernadette Olderdissen
Hast du schon mal von der finnischen Lebenseinstellung Sisu gehört? Falls nicht: Wir verraten, was es bedeutet, warum es die Finnen so glücklich macht und wie es uns im Alltag weiterhilft.
Was bedeuetet Sisu?
Wer nach Finnland reist, stößt eher früher als später auf einen Begriff, der so untrennbar mit dem Land verbunden ist wie die Ausdrücke „Glücksweltmeister“ oder „Wohnsitz des Weihnachtsmannes“: SISU. Doch was ist dieses „Sisu“ eigentlich, das allen Menschen in Finnland innewohnen soll? Übersetzungen aus dem Finnischen ergeben so etwas wie „Inneres“, im Englischen wird es oft als „gut feeling“ oder gar „guts“ beschrieben. Und ja, Sisu ist eine innere Haltung, eine Urkraft, man könnte auch sagen eine Lebenseinstellung, die sich in keine andere Sprache übersetzen lässt, aber von der Idee her Resilienz, Willensstärke und Durchhaltevermögen bezeichnet. Vor allem im Angesicht großer Herausforderungen.
Sisu wird den finnischen Soldaten nachgesagt, die im Winterkrieg 1939/40 die finnische Unabhängigkeit gegen die angreifende Sowjetarmee verteidigten, obwohl die Finnen den Sowjets zahlenmäßig weit unterlegen waren. Ebenfalls Sportlern, zum Beispiel Eishockeyspielern, wenn sie sich wieder einmal gegen ihre Gegner behaupten konnten. Doch was ist mit ganz gewöhnlichen Finninnen und Finnen und wie hilft ihnen Sisu im alltäglichen Leben, beziehungsweise wie drückt es sich aus?
Finnland-Reisende werden vielseitige Beschreibungen bekommen, wenn sie Einheimische nach ihrer persönlichen Bedeutung von Sisu fragen. Wer Glück hat, bekommt direkt eine Einladung zu manch unerwarteter, reichlich Sisu verlangender Aktivität, die nicht nur Antworten bringt, sondern auch eine neue Frage: „Wie viel Sisu steckt in mir selbst, auch wenn ich kein Finne bin?“ Ein wunderschöner Ort, um Sisu auf die Spur zu kommen, ist Jyväskylä, etwa 270 Kilometer nördlich von Helsinki und Aalto-Hauptstadt der Welt, aber auch Tor zu der finnischen Seenlandschaft.
Sisu im Sport
Jyväskylä ist nicht nur synonym mit Stararchitekt Alvar Aalto und seinen Gebäuden, sondern auch mit Sisu. Kann man zumindest denken, denn jeden Montag um 18 Uhr treffen sich vor dem Kipinastudio an Jyväskyläs Skilaufpiste bis zu zehn Frauen, um etwa eine Stunde lang im Freien Sport zu treiben. Bei jedem Wetter! Wirklich bei jedem? „Wir haben das Training einmal ausfallen lassen, da waren minus 40 Grad“, gibt Trainerin Reetta Vähä-Ruka zu. Abgesehen davon, ob bei minus 30 Grad, Schneesturm, Sturzregen oder Hitze (die es im Sommer selbst in Jyväskylä mal geben kann) – die Frauen trainieren zu den Beats aus Reettas tragbarer Musikanlage.
„Sisu bedeutet für mich, wenn man etwas wirklich will, kämpft man dafür“, so die 39-Jährige. „Für mich heißt Sisu, man bleibt am Ball und gibt auch dann nicht auf, wenn Dinge anders laufen als erhofft“, bestätigt Heli (40), seit Jahren Mitglied in der Frauensportgruppe. „Ich sitze jeden Tag acht Stunden im Büro und will danach nicht noch drinnen Sport machen, sondern draußen, egal, wie das Wetter ist.“ Für die 51-jährige Maarit steht Sisu für Glück – vor allem das Glück, etwas für sich selbst tun zu können. Und Johanna stimmt ein: „Sisu heißt, wenn etwas passiert, was du nicht ändern kannst, gibt es doch immer noch irgendetwas, was du tun kannst.“
Auch wenn sich dieses „Etwas“ darauf beschränkt, an einem Schneesturm-Tag einen vom Traktor aufgeschobenen Schneeberg rauf- und wieder runterzulaufen, im Schnee Liegestützen zu machen oder vor weißer Kulisse einen 20-Kilo-Gewichtssack hochzustemmen – denn diese Übungen und unzählige weitere denkt sich Reetta jede Woche neu für ihre toughen Sportmädels aus. Das Beste: Jede Frau, und wenn sie nur kurz in Jyväskylä zu Besuch ist, darf gegen eine kleine Gebühr mitmachen – dann wird der Kurs halt auf Englisch durchgeführt, was die meisten Finnen ohnehin fließend sprechen. Man sollte nur kurz vorher bei Reetta Bescheid geben.
Das Aalto2 Museum: ein wahres Sisu-Projekt
Es ist eine der neuesten und spannendsten Attraktionen von Jyväskylä: das im Mai 2023 eröffnete Aalto2 Museum zum Leben und Schaffen von Finnlands berühmtestem Architekt, Alvar Aalto. Museumsbesucher bestaunen in dem Gebäude, wo das Licht in jeden Winkel genau bemessen einfällt, die zeitlosen Designs und Zeugnisse von Aaltos Lebenswerk, doch was sie nicht sehen: wie viel Sisu es gebraucht hat und weiterhin braucht, um das aufwendige Projekt umzusetzen und es darüber hinaus zu einem besonderen Ort für Veranstaltungen und ein breites Publikum zu entwickeln.
„Bei mir ist es immer, wenn ich am meisten Druck verspüre, dass mein Sisu hervorkommt“, berichtet Heidi Länsisalmi (40), ab April 2024 CEO des Aalto2. Und Druck gebe es in ihrem Job reichlich. „Für mich bedeutet Sisu eine Art Willensstärke, eine Fähigkeit der Menschen, sich anzupassen an die Umgebung und die Ressourcen, auch wenn beide nicht optimal sind.“ Der englische Ausspruch „When the going gets tough, the tough get going” (ein Liedtitel von Billy Ocean) komme ihr dabei stets in den Sinn.
Ihrer Meinung nach ist diese Widerstandfähigkeit gegenüber den Hürden des Lebens eine Stärke der Finnen. Das Leben in Finnland sei nie einfach gewesen. Es sei zum Beispiel wegen der Kälte schwierig, den Boden zu bestellen, außerdem müsse man im Winter viel Dunkelheit ertragen. Und doch hätten sich die Menschen immer wieder durchgebissen und das Beste aus dem Schweren gemacht. „Sisu hat auch etwas mit Vertrauen zu tun, denn wenn wir sagen, wir tun etwas, dann tun wir es auch“, ist Heidi überzeugt.
Sisu für ein dynamisches Landleben
Nicht nur in einer Stadt voller aktiver Menschen und Unternehmungsmöglichkeiten wie Jyväskylä stellen die Einheimischen nahezu täglich ihr Sisu unter Beweis. Auch rund um das 1.500 Seelendorf Kinnula, gut 160 Kilometer nordwestlich von Jyväskylä, umgeben von Wäldern und Seen, gibt es Menschen, dank deren Entschlossenheit sich das dortige Landleben weiterentwickelt und zur Erholungsoase für finnische und ausländische Besucher zugleich wird.
„Wenn Finnland das glücklichste Land der Welt ist, dann ist Kinnula der glücklichste Ort in Finnland“, behauptet Dorfbewohnerin Marja Hakkarainen (51), Besitzerin des Restaurants Pikku Peura etwa zehn Kilometer nördlich von Kinnula. Und warum? Weil die Menschen dort frei in der Natur leben, einfach in den Wald gehen können, sei es im Winter mit Schneeschuhen oder im Sommer zu Fuß. Aber auch, weil es eine Extraportion Sisu erfordere, in einem so abgeschiedenen Ort seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Genau wie Jenni Numminen (43), Betreiberin des gemütlichen Gasthauses Karkausmäen Kammari mitten im Wald, ist Marja Teil einer kleinen Frauengruppe in Kinnula, die sich für ein aktives Landleben stark macht. „Auf Finnisch haben wir ein Sprichwort, “Alussa oli suo, kuokka – ja Jussi!”, was so viel bedeutet wie “Am Anfang gab es einen Sumpf, eine Hacke – und Jussi”. Was die Anfangszeilen eines Romans von Väino Linna sind, hat sich in Finnland längst zur Bezeichnung eines harten Beginns entwickelt, den jemand mit viel Entschlossenheit in etwas Großartiges verwandelt. „Das ist unser Ausdruck von Sisu“, so Marja, „du glaubst an etwas und ziehst es durch, selbst wenn du viele Rückschläge erleidest.“
„Sisu bedeutet für mich auch, dass ich das Gegenteil von dem tue, was die anderen von mir erwarten“, so Jenni. Deswegen habe sie sich mit der Eröffnung ihres Gasthauses unter anderem für ein attraktiveres Landleben stark gemacht, was bereits Besucher aus ganz Finnland anziehe und hoffentlich bald noch mehr ausländische Reisende. Oftmals führe viel Sisu leider dazu, dass man alleine kämpfe und nie um Hilfe bitte, doch das wollen die Frauen von Kinnula vermeiden. Jenni ist stolz auf die Unterstützung ihrer Familie, aber auch auf den ständigen Ideenaustausch und das Mutmachen unter den Landfrauen. „Die meisten Menschen hier sind freundlich zueinander, weil sie verstehen, dass alle kämpfen müssen.“ Und trotzdem klage man nicht, denn Sisu bedeute, dass man nicht herumjammere, sondern anpacke. „Oder man jammert nur ein bisschen“, lacht Jenni.
Sisu to go
Eins steht fest: Wer nach Jyväskylä und in seine Umgebung reist, darf sich natürlich auf die wundervolle Seenlandschaft, auf Architektur und Design sowie Abgeschiedenheit inmitten von Wäldern freuen, wo oft wenig mehr als der eigene Atem zu hören ist. Doch wer ein Stück weiter in das eintauchen möchte, was Finnland und seine Menschen so besonders macht – und vielleicht nicht immer glücklich, aber doch oft rundum zufrieden – sollte ein wenig Zeit für Gespräche mitbringen. Gespräche mit Menschen wie Reetta, Maarit, Johanna, Heli, Heidi, Jenni oder Marja. Und natürlich auch mit finnischen Männern.
Denn wenn die Bilder von malerischen Landschaften und Sonnenauf- oder -untergängen längst verblasst sind, wird die Erinnerung an solche Menschen und die Kraft und Ausdauer tief in ihnen, die sie Sisu nennen, hoffentlich weiterleben. Und vielleicht den einen oder anderen Finnlandreisenden dazu inspirieren, das Sisu in sich selbst zu stärken. Das geht laut den meisten Finnen nämlich auch dann, wenn man anderswo geboren wurde, obwohl man durch den Nachteil des Nicht-Finne-Seins länger dafür braucht. Aber das ist ganz einfach die erste Herausforderung beim Training des Sisu-Muskels. “Alussa oli suo, kuokka – ja Jussi!”
Über die Autorin
Bernadette Olderdissen ist eine freie Reisejournalistin und Schriftstellerin. Sie verfolgt in ihren beiden Heimaten Hamburg und Båtskärsnäs in Schwedisch-Lappland ihre drei beständigen Ziele: das Schreiben, das Leben am Meer und das Reisen. Für die Recherche zu ihrem Buch „Acht Jahreszeiten – Leben im Takt der Natur“ zog sie im Januar 2022 für ein Jahr in die Arktis, nach Schwedisch-Lappland, um alle acht Jahreszeiten (nach samischem Kalender) mitzuerleben. Nun ist sie eine richtige Schwedisch-Lappland Expertin.
Noch mehr Sisu
- Auch die Finnen selbst tun sich schwer, Sisu zu erklären. Hier ein unterhaltsamer Versuch als kurzes Video.
- Finnland ist offiziell das glücklichste Land der Welt – und das nicht zuletzt wegen der Lebenseinstellung Sisu.
- Sisu ist aber nur eines der nordischen “Geheimnisse” zu Glück und Zufriedenheit – um dieses und weitere geht es in diesem Video.