Mit dem Motorrad
zum Nordkap
Gastbeitrag von Lars Wennersheide
Mit dem Zweirad von Helsinki quer durch Finnland zum Nordkap ist der Traum vieler Motorradfahrer. Der Motorradreisejournalist Lars Wennersheide hat ihn sich mit seiner Familie erfüllt.
Eigentlich wollten sie Finnland dabei auf schnellstem Weg nach Norden durchqueren. Dann war da das Land, die Sonne, die Seen und die so besonderen Menschen, die sie einfach gefesselt haben – und sie sind viel länger geblieben, als eigentlich geplant.
Slow Travel auf der Fähre nach Helsinki
Schon zum siebten Mal in Folge wurde Finnland zum glücklichsten Land der Welt gekürt. Erstaunt scrolle ich bei ersten Reiseplanungen durch die Webseiten von Finnlines. »Laut dem UN-World Happiness Report leben hier im hohen Norden die glücklichsten Menschen der Welt.« Die Gründe folgen sogleich: »Vielleicht, dass sie die Dinge gelassen angehen: Hektik und Alltagsstress haben […] keine Chance.«
Egal wie man es dreht oder wendet, bis wir mit dem Motorrad finnisches Festland erreichen, könnten wir in vergleichbarer Zeit auch einmal um die Welt fliegen. Finnland ist ein Land, das Ruhe verheißt und selbige schon bei der Anreise verspricht. Kurz nach Mitternacht verschluckt uns das große Maul der Finnmaid in Travemünde. Die Zweizylinder verstummen auf dem Fahrzeugdeck, unsere BMWs sind eingekeilt und abgespannt für zwei Nächte, einen Tag, 30 Stunden. Auszeit für Maschine und Mensch. Ohne Internet. Offline von der Welt.
Ein dickes Hoch empfängt uns in Helsinki. 31 Grad zeigt das Motorradthermometer, als uns das »finnische Dienstmädchen«, sprich die Finnmaid, in Helsinki wieder an Land spuckt. Kurz wähnen wir uns an der Südküste Frankreichs. Wäre da nicht das klare Licht und der muntere Wind, dem die Schwere des mediterranen Hochsommers fehlt. Wir rollen aus dem Hafen, ja, es ist Verkehr, aber eher beschaulich und übersichtlich.
Sommer-Idylle in Südfinnland
»Ganz schön viel Fläche für so wenige Menschen.« Als ich am Denkmal Alexanders II. auf Finnlands wichtigstem Platz, dem Senatsplatz, die Länderkarte vorwiegend in die Höhe statt Breite entblättere, spricht Tochter Tessa spontan aus, was uns die kommenden Tage wohl erwartet: »Viel Einsamkeit.« Adieu Stadtleben. Finnland zu entdecken, bedeutet vor allen Dingen, es zu erfahren. Eigentlich wollen wir es auf schnellstem Weg zum Nordkap durchkreuzen. Eigentlich…
Der Sommertag ist dazu bestimmt, vertrödelt zu werden. Unser Hilleberg-Haus am See bauen wir am seerosenbewachsenen Ufer des Vesijärvi auf. Sandstrand, Beachvolleyball-Feld, Fußballtore, »Camping Messilä«. Um uns herum ausschließlich Finnen, von der Lebenslust übermannt. Von ganz unten im Gepäck kramen wir Schwimmkleidung hervor, nehmen Anlauf, tauchen ab. Erstaunlich warm ist das Seewasser. Finnland und Badeurlaub – damit haben wir nun mal gar nicht gerechnet. Wir bleiben länger im Wasser, als wir sollten.
»Mission Nord, wirklich?« Am anderen Morgen zählen wir Mückenstiche und ich die Kilometer bis zur Nordgrenze des Landes. Meine Mädels hegen andere Pläne: »Echt schön hier. Lass uns länger bleiben.« Spätestens mit Lahti beginnt, wofür Finnland weltweit bekannt ist: das Seengebiet. Die Straßenkarte im Tankrucksack bildet einen unendlichen grünblauen Flickenteppich aus Wald und Wasser ab. Kleine Kleckse, große blaue Punkte – wenn ein Land aus Flüssigkeit bestehen könnte, läge es nun vor uns. Vom »Land der tausend Seen« spricht die Metapher und verschweigt dabei die restlichen 187.000 Teiche und Tümpel. Kein einfaches Durchkommen für ein Landfahrzeug. Die Verbindungen werden rar, die schmalen Dämme zahlreicher, die die Asphaltstraßen tragen.
Mit Motorrad durch die Seenplatte
Beinah den gesamten Rest des Landes bilden Kiefern, Fichten und Birken. Nirgends bleibt mehr Raum, mehr Natur, mehr Platz fürs eigene Leben. Mehr Wald gibt es in Europa anderswo nicht. Wasserwege kreuzen, Ruderboote dümpeln. Was so alles schwimmt! Baumreihen versperren leider viel zu oft die Aussicht auf diese grandiose Wasserwelt der Seenplatte rund um den zweitgrößten, dafür aber tiefsten See Finnlands, dem Päijänne mit dem Päijänne-Nationalpark. Von der Route 314 kommen wir auf die mit der Nummer 612, biegen auf die 610, 616 und letztlich auf die Route 431 Richtung Mikkeli ab. Geschäfte in den Orten bleiben geschlossen, weil der Chef angeln ist. Urlaubszeit.
Die Sonne steht flach im Saimaa UNESCO Global Geopark über der Route 62 und malt Schatten über die nächste Landbrücke zwischen den Eilanden Ihantsalo, Iso Korkiasaari und Verkkosaari. Wer kennt noch die alte Volks-und-Raiffeisenbanken-Werbung: »Wir machen den Weg frei?« Wasser trennt sich, eine Asphaltallee durchschneidet das Nass, rechts und links blau, dazu in den See getupfte Inselchen, mal kahle Felsen, mal von wenigen Bäumchen bewachsen. Wir mittendrin. Ein Hinweisschild schreibt: »vihreän kullan kulttuuritie« und ich verstehe schon wieder nichts.
Als wir endlich auf den Campingplatz in Savonlinna rollen, habe ich die Strecke beim morgendlichen Überschlag der Tagestour um schlappe zweihundert Kilometer unterschätzt. Anderntags übersprudelnde Lebenslust in der Stadt, die weltweit wegen ihrer Opernfestspiele bekannt ist. So mediterran, so fröhlich und friedlich, so unerwartet nah hätte ich den Besuch von Savonlinna nicht erwartet, das mit der wohl schönsten Burg im hohen Norden trumpft.
Ein Fehler bescherte unweit Kerimäki die heute größte Holzkirche der Welt. Diesen Rekord verdankt sie angeblich einem Missverständnis, nach dem der Architekt die Größenangaben in Fuß berechnet haben soll, was fälschlich beim Bau in Meter umgesetzt worden sei. Tief im Osten des Landes steht der Reisekompass ausschließlich auf Kurs Nord. Vorbei am Westufer von Finnlands schönstem See – dem Pielinen – über Kuhmo, immer dicht an der russischen Grenze auf die Nebenstrecke nach Suomussalmi. Die nächste größere Siedlung eine halbe Tankfüllung entfernt.
Kurz stoppen wir bei Minna an der Kreuzung der Route 912 mit der Raate-Straße, der heutigen Nebenstrecke 9125, die direkt auf die russische Grenze zuläuft. Gemeinsam mit ihrem Mann gehört Minna das »Raatteen Portti Winterkriegsmuseum«. Draußen verrottete Panzer und anderes Kriegsgerät, drinnen im Museum die finnische Lesart des erfolgreichen Winterkrieges gegen den Nachbarn Russland.
Wälder & Wildnis des Nordens
Seit Stunden bewegen wir uns vorwärts und nichts scheint zu passieren. Bäume wechseln sich mit Bäumen ab. Als ob die Welt einfach stehen geblieben wäre, obwohl die Räder der BMWs unablässig rollen. Vor uns immer wieder ein kerzengerades Asphaltband, im Sonnenlicht flirrend bis zum Horizont. Ringsherum rauschende Wälder – Birken, Fichten, Krüppelkiefern. Unerklärlicherweise ist das alles, nur nicht langweilig. Kleinere Siedlungen tragen ein spärlich russisch angehauchtes Antlitz, die knappen Grünstreifen eine tiefe Grassenke.
Schilder weisen mal wieder auf den östlichen Teil der Ferienstraße »Via Karelia«, der »Runon ja Rajan tie«, hin. Eine alte Handelsstraße, auf der die karelischen Kaufleute nach Norden reisten. Mehr als tausend Kilometer streckt sich die Themenstraße von Süden bis hinauf nach Salla. Selten ist rechts oder links mal Leben in der Bude. Eine Stunde, also hundert Kilometer, bis Kuusamo. Die Route 5 oder auch Europastraße 63 badet mit ihrer ganzen Pracht in der nie enden wollenden Abendsonne, entrollt eine hypnotisierende Wirkung, begünstigt von dem gleichmäßigen Pumpen der Kolben in dem Boxer meiner BMW. Die Zukunft liegt immer weit vor uns.
Sogar meine Damen haben diesen hellroten Schimmer des Hilleberg-Tunnels zum Schlafen in lauwarmen und hellen finnischen Nächten lieben gelernt. Vorteil des engen Raumes samt feinporigem Moskito-Meshnetz: Die zwei, drei Midges, die stechenden Eindringlinge, sind schnell im künstlichen Lichtkegel ausgeschaltet. Niemand surrt nachts am Ohr, in der Nase oder hinterlässt beim Aufwachen kleine, juckende Beulen auf der Haut.
Mittlerweile haben wir die ABC-Tankstellen mit ihren hohen, von Weitem erkennbaren Werbetafeln schätzen gelernt. Restaurant, überschaubarer Supermarkt, zuverlässige Öffnungszeiten. Draußen auf dem Land oftmals Hotspot sämtlicher Zivilisation. Aber irgendwie ist hier im Norden Finnlands ja sowieso fast überall »draußen auf dem Land«. Sicherheitshalber bunkern wir mal wieder Benzin.
Hinein in die Weite des Landes, die bis Ruka am Fuße des Rukatunturi-Fjells kaum Fahrt aufnimmt. Willkommen in den Alpen Finnlands auf maximal 492 Metern Höhe! Bekannt als Wintersport-Saisoneröffner. Zuverlässiger Schneefall bringt früh im Jahr Winterbedingungen und damit einen zeitigen Start so mancher Profikonkurrenzen samt Fernsehübertragungen oder Sportberichterstattung.
Willkommen am Polarkreis!
Als wir in die Nebenstrecke der 950 einbiegen, könnte der Kontrast kaum größer sein. Wieder allein, allein. Bis wir vor dem Besucherzentrum der »Bärenrunde« (Karhunkierros) ausrollen, Finnlands berühmtestem Wanderweg durch den Nationalpark Oulanka. Für uns ist es so weit: Wir passieren den Polarkreis. Die taigaartigen Wildnisgebiete mit ihren ausgedehnten Wäldern haben ihr Strahlen verloren. Im Schatten der immer dunkler werdenden Wolken zieht es uns über die ausgedehnten Höhenzüge, über Salla, die Route 82 gen Westen, Kemijärvi, Rovaniemi.
Schon einmal im Hochsommer Weihnachten gefeiert? Jingle Bells und so? Mit der Elfe Vanilla, ihren Wichtelfreundinnen und dem leibhaftigen Weihnachtsmann? Genau dieser sitzt nun in seinem roten Gewand vor mir. Mit sonorer, vor allem bedächtiger Tenorstimme spricht der bärtige Mann Sätze zu uns wie: »Ich bin eines der Weihnachtsgeheimnisse. Mein Zuhause ist viel weiter nördlich. Es ist ein abgeschiedener Platz. Euch kann ich es ja verraten: Es ist am Rande eines großen Berges, dem Ohrenberg. Alle finnischen Kinder wissen, wenn ich dort gemeinsam mit den Elfen bin, dann kann ich all ihre Träume und Wünsche hören.« Spätestens als wir über seinen dichten, langen Bart im Umgang mit den vielen Mücken im Sommer plaudern, will er uns wohl einen Bären aufbinden: »Daran habe ich mich seit Jahrhunderten gewöhnt. Die Sommer hier am Polarkreis sind nie zu heiß.«
Draußen im Weihnachtsmanndorf von Rovaniemi haben wir die Bescherung. Der Sommer läuft doch wieder zur Höchstform auf. Ein Rummel wie auf einem Ruhrpott-Weihnachtsmarkt am Sonntagnachmittag. Nur, dass danach bestimmt nicht mehr alle geradeaus auf einem Strich gehen können. Tankavaara, das Goldgräberdorf und blendende Finale unserer Finnlandquerung. Am Rande eines staubigen Platzes mit Fassaden ähnlich einer alten Westernstadt präsentiert der Hamburger Kasper seine glänzenden Auslagen, Goldstaub, Nuggets und anderen (selbst gemachten) Schmuck. »Als ausgebildeter Geologe war ich vor gut dreißig Jahren das erste Mal hier in den Goldfeldern und habe mich unter die Goldwäscher gemischt.«
Eigentlich wollten wir Finnland auf schnellstem Weg nach Norden durchqueren. Dann war da das Land, die Sonne, die Seen und die so besonderen Menschen, die uns einfach gefesselt haben. Bis zum Nordkap ist es nicht mehr weit durch Norwegen. Eine Motorradtour durch Finnland aber hat etwas Meditatives, eine Ereignislosigkeit, die selbst zum Ereignis wird. Solange die Bereitschaft besteht, sich darauf einzulassen.
Mit dem Motorrad zum Nordkap – Tipps zu Route & Reisezeit
Motorradfahren in Finnland ist einfach. Die Tempolimits bleiben mit außerorts 80-100km und auf den wenigen Autobahnen 120km/h gut verträglich. Oft kann auf den großen Verbindungsstraßen die Entfernung exakt in Zeit kalkuliert werden. 100 Kilometer bedeuten schlicht eine Stunde Fahrt. Keine Ampeln, keine Staus, kein hohes Verkehrsaufkommen. Je kleiner der Motorradtank desto genauer sollte man auf Nachfüllmöglichkeiten achten. Grundsätzlich ist das Tankstellennetz für kleinere Tankvolumina ausreichend, sicherheitshalber haben wir immer frühzeitig in größeren Orten nachgefüllt.
Als Besonderheit muss man in Finnland offiziell auch auf dem Motorrad ein Warndreieck mitführen. Bei Panne/Unfall müssen Fahrer und Beifahrer Warnweste tragen, eine Mitführpflicht ist allerdings gesetzlich nicht verankert. Auch Verbandszeug muss anders als in vielen anderen Staaten Europas nicht mitgeführt werden.
Die beste Reisezeit für Motorradreisende in den hohen Norden beschränkt sich wohl auf das Umfeld des Hochsommers, um Wintereinbrüche im späten Frühling oder frühen Herbst zu vermeiden. Bis weit über dem Polarkreis zeigte sich Finnland während unserer Reise von seiner stabilen hochsommerlichen Seite, die das Baden in den vielen Seen jenseits des 66sten Breitengrades bei wirklich angenehmen Wassertemperaturen ermöglichte. Obwohl man das Land bei strammer Planung sicherlich innerhalb einer Woche queren könnte, haben wir uns faszinieren lassen und letztlich viel mehr Tage in Finnland verbracht als wir ursprünglich veranschlagt hatten.
Das Budget einer solchen Reise hängt, wie immer, von den eigenen Bedürfnissen und Ansprüchen ab. Benzin kostet ähnlich wie daheim, wesentlich variieren vor allem die Kosten für Übernachtungen und Verpflegung. Bleiben die Kosten bei Zelt/Hütten und Selbstversorgung, wird der Anteil für komfortable Hotelzimmer und Vollverpflegung wesentlich größer. Organisierte Motorradreisen bietet der spezialisierte Anbieter www.feelgoodreisen.de.
Über den Autor
Seit weit mehr knapp 25 Jahren arbeitet Lars Wennersheide vorwiegend für das deutschsprachige Motorrad-Reise-Magazin TOURENFAHRER. Im Rahmen von mehr als 150 Reisereportagen durfte er dabei fast jeden Winkel Europas mit dem Motorrad unter die Räder nehmen. Als Schmankerl fotografierte und berichtete er zwischendrin ebenso von der Südhalbkugel wie auch von ganz besonderen Motorradtouren jenseits des großen Teiches. Dabei mag Lars vor allem die kleinen und großen Geschichten, die sich auch jenseits der Straßen abspielen und Horizonte erweitern. Seine große Reiseliebe führt ihn dazu immer wieder nach Skandinavien.